Ein Reisebericht von Rahel Nicolet
Der Blick aus dem kleinen Flugzeug, das uns von der kolumbianischen Hauptstadt an die südlichste (?) Landesspitze bringt, zeigt einen braunen Fluss, der sich durch unendliches Grün schlängelt: Der Amazonas. Später fahren wir mit dem Boot flussaufwärts, der peruanisch-kolumbianischen Grenze entlang, in das Stammesgebiet der Tikuna. San Martin de Amacayacu, ein Ort mit etwa 650 indigenen Einwohnern, wird zwei Wochen lang unser Zuhause sein.
Der Amazonas-Nebenarm Amacayacu hat einen geschichtenumwobenen Namen: Hängenmattenfluss wird er genannt, da peruanische Händlerschiffe vor langer Zeit gekentert seien und der Fluss in der nächsten Trockenzeit unzählige versunkene Hängematten freigegeben habe. Geschichtenumwoben ist auch sonst vieles im Zusammenleben der Tikuna. Der grosse Wald ist heilig und wird von vielen magischen Wesen bewohnt, die man nicht verärgern darf, wenn man behütet durch den Alltag gehen will. Die physische und psychische Gesundheit der Menschen hängt vom Einhalten alter Gebräuche ab – die wohl teils auf lang überliefertem Wissen über die Naturgegebenheiten und teils auf kindlich-abergläubisch anmutenden Erklärungsversuchen über deren Funktionieren beruhen.
Uns beeindruckt das Angepasstsein der Menschen an die Rhythmen der Natur: Den Tagesrythmus bestimmt die Sonne. Mit dem Licht steht man morgens auf, mit der Dunkelheit geht man abends ins Bett. (Oder zieht sich zumindest ins Häusliche zurück – seit es einige Stunden am Tag Elektrizität gibt.) Den Jahresrythmus bestimmt das Wasser. In den regenreichen vier Wintermonaten (?) werden die Häuser von Wasser umspült, die Felder sind überschwemmt. Es gedeihen hier nur Kulturen, die mit diesem Wechsel zurechtkommen. Und die Menschen haben Techniken entwickelt, um die Felder dennoch zu bestellen und die Lebensmittel für die mageren Monaten haltbar zu machen.
Auch der grosse Spagat zwischen dem Angeschlossensein an etwas Ursprüngliches und dem Ruf des Fortschritts und der Globalisierung, mit dem die Menschen in San Martin konfrontiert sind, beschäftigt uns. Manche Dorfkinder sprechen nur noch Spanisch und das Wissen um die Tikuna-Tradition geht mehr und mehr verloren. Cola, Chips, Batterien, Bootsmotoren, Nylon-Kleidung… überall im Dorf haben moderne Dinge des täglichen Bedarfs Einzug gehalten, mit allen Vor- und Nachteilen, die wir in den Konsum- und Wohlstandsgesellschaften kennen. Die Frage nach einem guten Zusammenleben in Gemeinschaft, nach dem Verteilen von Land und Gütern, den eigenen Werten, dem Erziehen und Gestalten von Beziehungen oder von schulischem Lernen stellen sich.
Bald schon müssen wir wieder nach Hause. Wir sind genährt durch die Regenwald-Stimmung, diese satte, vor Lebendigkeit überfliessende Energie des Waldes, des Wassers und der unzähligen Lebewesen. Die Tikuna kennen wir noch kaum und nehmen aus dem scheuen Beobachten ihres Lebens vor allem offene Fragen mit. Und das Interesse, diesen bei weiteren Begegnungen erneut nachzufühlen. Unsere Spuren werden bald wieder verwischt sein: Unser Abfall zur Verbrennung ins nächste Dorf gebracht. Unser Gruppenplatz wird in einigen Monaten überschwemmt. Nur die inneren Spuren bleiben.